Biografisches Schreiben: Rechfertigungen, Beichten und Bekenntisse
Aufgabe: Hat man Ihnen schon einmal Unrecht getan oder Sie völlig falsch eingeschätzt und Sie hatten bisher nicht die Chance, Ihre Sicht der Dinge darzustellen? Schreiben Sie eine Rechtfertigung.
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Rechtfertigung
Ich wünsche mir, dass es diesen Lebensrückblick wirklich gibt, von dem Menschen mit Nahtoderfahrungen berichten. Im Zeitpunkt des Übergangs vom Leben in den Tod liefe das gesamte Leben vor dem inneren Auge im Schnelldurchlauf nochmals ab, heißt es. Und nicht nur das, man erlebe zudem auch die Auswirkungen des eigenen Handelns auf andere Menschen, spüre ihren Schmerz, ihre Freude, lese ihre Gedanken, sehe nicht nur die eigene Perspektive, sondern das gesamte Bild. Wie würde die eigene Lebensbilanz ausfallen? Das müsste sich dann auch Herr Hensen im Zeitpunkt seines Tods am 3. Dezember 2016 gefragt haben. Er war einst Präsident des Landesjustizprüfungsamtes beim hanseatischen Oberlandesgericht und damit zuständig für die Prüfung zum ersten juristischen Staatsexamen. Hatte er von seinem vorauseilenden Ruf als Mr. Gnadenlos gewusst? Oder erfuhr er erst im Angesicht des Tods davon? Gefiel es ihm oder machte es ihn betroffen? Was mag er gedacht haben, nachdem er zwischen all seinen Lebensbildern auf unsere Begegnung stieß und meine Version der Geschichte erlebte? Reue? Oder blieb er hart und gnadenlos?
Ich bin nicht hochbegabt, aber ich bin auch nicht dumm. Mir Wissen anzueignen, das abstrakt ist, fällt mir schwer. Wie etwa die Mathematik, Zahlen jagen mir bis heute Angst ein. Ich kann mir dagegen leicht Dinge merken, zu denen ich einen lebendigen Bezug habe, die mich wirklich brennend interessieren. Ich lerne leichter durch zuhören, zuschauen und aufschreiben, als durch Bücher lesen. Das Studium der Rechtswissenschaften, das meine Mutter für mich ausgesucht hatte, lehrt das abstrakte und allgemeine Recht insbesondere durch Wälzen von Büchern und der Lösung von kniffligen Rechtsfragen, die mich an die panikauslösenden Textaufgaben des Matheunterrichts erinnerten. Hat A den B mittels eines gefährlichen Werkzeugs mit dolus directus 2. Grades (sicheres Wissen) oder gar mit dolus directus 1. Grades (Absicht) getötet? Die konkrete Anwendung des Rechts im wirklichen Leben findet erst nach einem unendlich langen Studium statt. Dann erst geht es um reale Menschen mit richtigen Problemen. Dann erst gibt es blutverschmierte Messer und weinende Angeklagte. Dann erst wird die Realität hinter den abstrakten Rechtvorschriften sichtbar.
Nicht nur deshalb war das sechsjährige Jurastudium die größte Herausforderung, nein sagen wir lieber wie es ist, die Hölle für mich. Meine Noten waren mäßig bis schlecht. Mein Selbstwertgefühl und Zutrauen in meine Fähigkeiten waren am Boden. Zur Examensvorbereitung habe ich über ein Jahr tagein tagaus gelernt. Tagsüber Wissensaneignung, nachts vom Gelernten träumen, bis ich mich für das erste juristische Staatsexamen anmeldete. Damals wie heute fallen ca. die Hälfte der Studenten durch die Prüfung. Es bleibt ein einziger Wiederholungsversuch. Sollte der nicht gelingen, dann war’s das. Müsste ich dieser Zeit in meinem Studentenleben eine Überschrift geben, dann hieße diese ANGST.
Unter diesen Vorbedingungen fertigte ich zunächst meine Examenshausarbeit an. Dafür stand ich morgens um 8 Uhr vor dem Rechtshaus in der Schlüterstraße in Hamburg und verließ die Bibliothek erst wieder zum abendlichen Türschluss. Hätte ich ein Bett dort aufstellen können, hätte ich zwischen all den Kommentaren und juristischen Zeitschriften übernachtet. Denn die Zeit zur Bearbeitung war extrem knapp. Es gab Studenten, die am Abgabetermin nachts kurz vor 24 Uhr jemanden schickten, einen Besenstock in den Briefkasten des Ziviljustizgebäudes zu steckten, um den automatischen Verschluss des Briefkastens zu stoppen. Denn nur Umschläge, die noch bis 24 Uhr in den Kasten eingeworfen wurden, erhielten den Eingangsstempel des Tages. Die nur um Sekunden verspätete Abgabe der Arbeit konnte also das Aus für die juristische Karriere bedeuten, hätte man nicht einen Besenstiel dabei gehabt. Ich schaffte den Ausdruck der Arbeit, das Einbinden im Copyshop und den Einwurf weit vor Mitternacht. Die erforderliche eidesstaatliche Versicherung darüber, dass ich die Arbeit selbst angefertigt hatte, lag bei. Im Anschluss an den geistigen Marathon für die Hausarbeit hatte ich noch drei Klausuren zu schreiben.
Die Examensergebnisse überraschten nicht nur mich: sämtliche Klausuren waren erwartungsgemäß am unteren Limit. Die Hausarbeit aber hatte ich mit einer Auszeichnung bestanden, 13 Punkte, einer Note, die ich nie zuvor erreicht hatte und die im juristischen Bereich auch eher selten erreicht wird. Nur wegen der Hausarbeit konnte ich überhaupt das erste Staatsexamen bestehen. Meine gigantisch große Freude darüber wurde kurze Zeit später durch einen Telefonanruf zerstört. Mein sehr geliebter Stiefbruder war bei einem Motorradunfall auf Mallorca verstorben. Auf dieses Schockereignis folgte wiederum nur Tage später die Einladung zur mündlichen Prüfung. Dafür stand zunächst für jeden Kandidaten ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Prüfungsausschusses an. Bei mir war es der berüchtigte Herr Hensen.
Ich kann mich nicht mehr an sein Gesicht erinnern. Ich habe auch keine Bilder mehr von seinem Büro im Kopf, der Umgebung, dem Tageslicht oder Wetter. Aber an das Gefühl erinnere ich mich auch nach 25 Jahren noch sehr genau. Herr Hensen strahlte eine fast greifbare Überlegenheit und Verachtung mir gegenüber aus, die sich in sehr direkten Fragen und beiläufig erscheinenden, spitzfindigen Äußerungen manifestierte. Ich fühlte mich bei der Befragung, deren Sinn eigentlich eine Vorbesprechung für die mündliche Prüfung sein sollte, wie in einem Verhör in einem Stasibunker. Ich hatte Angst vor diesem Mann. Die Entscheidung über meine vermeintlichen Missetaten hatte die Verhörperson bereits gefällt, die Anhörung war daher eher Formsache. Bestenfalls konnte er mich noch der Täuschung bei der Bearbeitung der Hausarbeit überführen, gern durch ein Geständnis. Denn es konnte ja nicht sein, dass diese Studentin mit ihren schlechten Noten in den Klausuren und den mäßigen Ergebnissen im Jurastudium ohne fremde Hilfe eine Hausarbeit mit 13 Punkten ablieferte, war sich der erfahrene Prüfer sicher. Es gab genug Studenten mit reichen Eltern, die jemanden für die Hausarbeit bezahlten, damit Sohnemann oder die Prinzessin das Examen schaffte. Solche Betrüger hatte er auch schon erfolgreich überführt. Ich empfand allein schon den mir gegenüber offen ausgesprochenen Verdacht als eine Demütigung. Dann fielen noch Sätze wie „hatten Sie einen schönen Urlaub?“, mit bissigem Unterton und Blick auf meine leicht gebräunte Haut. An Urlaub war aber in den letzten Jahren nicht zu denken gewesen. Ich hatte mich ein paar Mal unter der Sonnenbank gebräunt, eine Sünde, die ich mir Anfang der 1990er noch antat. Im Subtext schwangen Worte wie „Ach, Sie haben Zeit Urlaub zu machen und es nicht nötig noch zu lernen.“ Ich widersprach nicht, sagte fast gar nichts, fühlte mich eingeschüchtert und erniedrigt. Die Trauer um den plötzlichen Tod meines Bruders, die Verächtlichmachung durch den Präsidenten und seine Anwesenheit in der Abschlussprüfung beeinträchtigten dann auch meine Performance in der mündlichen Prüfung. Ich hatte sowas wie einen Blackout, wusste die einfachsten Dinge nicht mehr. Das Ergebnis war entsprechend katastrophal. In der Berechnung des Gesamtergebnisses mit herausragender Hausarbeit, miserablen Klausuren und ebenso schlechter mündlicher Prüfung hatte ich aber immer noch eine stattliche Gesamtnote von 7,0 Punkten (befriedigend), bis Hensen mir verkündete:
„Wir ziehen Ihnen wegen der Divergenz zwischen Hausarbeit und sonstigen Leistungen eine halbe Note ab, Gesamtergebnis 6,5 Punkte“.
Zur Verabschiedung sagte mir einer der weiteren drei Prüfer: „Das war keine einstimmige Entscheidung“.
Vielleicht klingt das für Außenstehende weniger schlimm als es aber ist. Das Endergebnis war nicht nur eine Demütigung für mich, es war auch ein willkürlicher Abzug bei der Berechnung meiner Examensnote. Zudem hatte diese Entscheidung tragende Konsequenzen für eine etwaige Bewerbung im öffentlichen Dienst, über die ich sehr wohl nachgedacht hatte. Denn für solche Bewerbungen würde stets meine Personalakte herangezogen werden, aus der sich wegen des Notenabzugs der Verdacht einer Examensfälschung herauslesen ließ. Auch entspricht die Endnote von 6,5 Punkten zwar gerade noch einem „befriedigend“ im alleruntersten Bereich. Eine Note von 7,0 Punkten dagegen kann einem schon eher Türen für die juristische Karriere öffnen. Ich hätte rechtlich gegen die Benotung vorgehen können. Dafür hatte ich aber keine Kraft mehr.
Ich denke an den Satz, den ich später im Referendariat von einem brillanten, von mir sehr verehrten Richter am Schwurgericht Herrn Gerhard Schaberg gehört hatte, der tagtäglich über Mord und Totschlag zu urteilen hatte.
„Es gibt nichts, was es nicht gibt. Daher sollte man in einem Rechtsstaat die Unschuldsvermutung sehr ernst nehmen.“
Und was sagen Sie dazu, Herr Hensen?
Ulrike Hinrichs 2018
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