
Viele von uns werden von traumatischen Ereignissen aus der Kindheit bis ins hohe Alter verfolgt. Traumata bedingen einen schwerwiegenden Kontrollverlust bis hin zu Ohnmachtsgefühlen. Das führt zur Dissoziation, der Abtrennung vom Fühlen. Und das ist in der akuten traumatischen Situation eine großartige Reaktion unseres Körpers, denn sie ermöglicht uns, dass wir eine solche Situation überleben. Bleibt dieser Zustand erhalten, dann behindert er unser Leben. Unser Nervensystem ist hochempfindlich, Gefahren lauern überall. Wir fühlen uns wie ein Astronaut im eigenen Körper. Durch Kontrolle des Lebens und der Umstände, versuchen wir die Wiederholung traumatischer Ereignisse zu vermeiden. Dabei greifen viele zu Alkohol und anderen Betäubungsmittel, werden zu Workaholics oder verfallen in unkontrollierte Kaufräusche, um die innere Leere zu stopfen. Das Leben wird eng und kontrolliert.
Trauma braucht Großzügigkeit
Fühlen ist der erste Schritt zur Heilung, uns aus der Erstarrung lösen, den tiefen Schmerz zulassen. Wir müssen uns der (Todes-)Angst stellen, die traumatischen Ereignissen innewohnt. Trauma braucht Großzügigkeit, sich selbst zuhören, für sich selbst da sein, den Schmerz bezeugen. Wir dürfen auftauen. Trauma-Transformation verflüssigt die Realität. Die Weisheit der Wunde hinter unserem Trauma können wird nur erfahren. Das kann ein langer Prozess sein, therapeutische Unterstützung ist dafür angezeigt. Gleichzeitig bedarf es eines hohen Maßes an Selbstfürsorge. Oft erlebe ich, dass Klientinnen trotz Therapie und Selbsterkenntnis sich selbst bestrafen und beschimpfen, ungnädig mit sich sind, wenn sie Fehler machen. Wenn du dich fragst, was du tun kannst, dann geht es in einem ersten Schritt um eine Selbstfürsorge.
Kontrolliert die Kontrolle abgeben
Ich möchte dir ein wundervolles Ritual vorschlagen, das auch ich für mich zelebriert habe. Es kommt aus der schamanischen Tradition. In einem ersten Schritt suchen wir uns drei Steine (ganz gewöhnliche Steine, z.B. aus dem Wald oder vom Meer). Diesen Steinen hauchen wir anschließend unsere drei größten Wunden (Traumata) ein. Widme jedem Stein ein Trauma. Mit diesen Steinen kreieren wir ein Sandbild, das von einem Kreis gehalten wird. Das Bild darf mit anderen Fundstücken geschmückt werden, wie etwas Federn, Tannenzapfen, Muscheln, Obst. Auch diesen Utensilien hauchen wir etwas ein, Wünsche, Bedürfnisse oder Themen, die mit den Traumata zusammenhängen. Bei so einem Sandbild geht es aus der schamanischen Sicht darum, die schwersten Traumata zu transformieren und die Steine in Heilsteine zu verwandeln. Der Schamane nutzt sie für seine Heilarbeit. Denn unsere größten Kraftquellen verbergen sich hinter unseren traumatischen Erfahrungen.
Da ich am Fuße der Harburger Berge wohne, wo Sand Mangelware ist, wurde aus meinem Sandbild ein Moos-Bild. Das Naturbild lassen wir einige Tage liegen, schenken ihm Aufmerksamkeit, beobachten es, geben intuitiv neue Dinge hinzu, nehmen andere heraus. Bei mir flog vom Winde verweht eine Feder aus dem Kreis heraus. Ein schönes Symbol, dachte ich mir. Die Eichhörnchen klauten sich die Nüsse, die ich ins Bild gefügt hatte. Nachdem das Bild mindestens 3-4 Tage gelegen hat, übergeben wir die Einzelteile der Natur. Aus deinen Trauma-Steinen sind Heilsteine geworden. Ein schöner Anker, um dich an deine Kraft zu erinnern. Das ist die Weiheit der Wunde.
Bei dieser Übung passiert ganz automatisch etwas Beachtliches: wir beschäftigen uns mühelos und spielerisch mit den Ressourcen und Kräften, die uns ein traumatisches Erlebnis geschenkt hat, während wir sonst oft nur über die Qualen nachdenken.
Unser Gehirn liebt Zeremonien, Rituale und Bilder, wenn es darum geht, Veränderungsprozesse zu bewältigen. Wir kennen solche Zeremonien kulturell zu allen möglichen Anlässen, Hochzeiten, Konfirmation oder Jugendweihe, Beerdigungen, Geburtstage, Feiern zu bestimmten Ereignissen. Spirituelle Richtungen und alle Religionen sind voll von Ritualen und Zeremonien. Sie helfen uns, gerade schwierige Wandlungsprozesse durchzuhalten und zu vollziehen. Auch künstlerische Prozesse unterstützen Wandelungsprozesse.
Ich möchte das nun noch etwas anschaulicher illustrieren. Mehr dazu in meinem Beitrag Wenn der Körper sich abschaltet – Guillain-Barré Syndrom

Im Jahre 1979, mit 14 Jahren, erkrankte ich an einer „aufsteigenden Polyneuropathie mit Hirnnervenbeteiligung“ (Akute Polyneuroradikulitis (Guillain-Barré-Syndrom), eine schwere Autoimmunerkrankun. Folgen dieser Erkrankung sind entzündete Nervenwurzeln im Rückenmark, durch die die Nervenfasern beschädigt werden. Ich war über sechs Wochen in meinem komplett gelähmten Körper gefangen, konnte nicht mehr sprechen, schlucken, mich artikulieren, sah nur noch Doppelbilder. Das einzige, was im Kontakt zur Außenwelt funktionierte, war mein Höhrsinn. Ich hatte zu dieser Zeit dem Tod in die Augen geschaut. Ich stand kurz davor, dass die Krankheit die inneren Organe wie Herz und Lunge lähmte. Dieser Zustand ist lebensbedrohlich. Es war unklar, ob ich wieder vollständig genesen würde.
Nach meiner Krankenhausentlassung dauerte die Rekonvaleszenz noch etwa ein Jahr. Lange Zeit saß ich im Rollstuhl. In dieser Zeit entstand das Bild von Medusa, eine der drei Gorgonen – Gespenster mit Schlangenhaaren – aus der griechischen Mythologie. Nach der Sage heißt es, dass jeder der in ihre Augen blickt, augenblicklich in Stein verwandelt wird. Man erkennt in meinem Kunstwerk aus Teenagerjahren die Eiseskälte, den elektrisierenden Blick aus leeren Augen.
Medusa ist ein archetypisches Bild von Wut, Verrat und Scham, beschreibt es auch Ursula Wirtz in ihrem Buch: Stirb und werde, die Wandlungskraft traumatischer Erfahrungen. Das Symbol der Versteinerung, das Medusa repräsentiert, steht im Traumakontext auch für emotionale Betäubung. Der Mythos von Medusa wird auch als Aspekt der Dissoziation gesehen, das Abtrennen des Kopfes vom Körper. Und genau das ist auch in der Symbolik der Krankheit geschehen. Gleichzeitig steht Medusa in der Mythologie, was weniger bekannt ist, auch für eine helle schützende Seite. Sie ist die Göttin der Masken, des wilden Blickes und des „weisen Blutes“. Als Schlangengöttin verkörpert Medusa weibliches intuitives Wissen. Die Schlangen, die ihrem Kopf entspringen, symbolisieren Weisheit und Erkenntnis. Schon lange bin ich auf der Fährte der hellen und lichten Seite der Medusa als Schlangengöttin; ihrer Weisheit.
Was kann ich durch diese Erfahrung besonders gut? Das habe ich mich anlässlich meines Moos-Bildes noch einmal gefragt.

Ich habe eine Medusa 2.0. dazu erschaffen. Sie trägt die Schlangen als wunderschöne Haartracht. Sie blickt nach innen, nicht nach außen. Eine meiner Stärken, die durch das Trauma erweckt wurden, sind meine ausgeprägten Sinne. Oft höre, fühle, sehe ich Themen, die unausgesprochen in der Luft liegen. Ich habe keine Berührungsängste vor den tiefen Wunden und Schmerzen meiner Klientinnen. Meine größte Dissoziation durch die Erkrankung lässt mich auch die Dissoziation und den tiefen Schmerz anderer fühlen. Ich kann Themen wie Folter und Todesnähe, die mir in meinen Flüchtlingsgruppen begegnen oder auch Gewalterfahrungen, die in meiner Frauengruppe oft Thema sind, nehmen, aushalten, bezeugen. Für traumatisierte Menschen ist besonders wichtig, dass andere ihren Schmerz bezeugen können, indem ihnen jemand wirklich zuhört. Ich habe zudem ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl für verletzte Wesen. Der Tod in meinem Leben ist für mich eine Inspiration und Quelle geworden. Durch das Aufwachsen in einem narzisstischen Familiensystem (was den psychologischen Hintergrund zu meiner Erkrankung erklärt) wittere ich narzisstischen Missbrauch bei meinen Klientinnen unmittelbar. Viele berichten mir, dass sie schon Jahre Therapie gemacht haben, ohne dass sie vom Thema Narzissmus wussten. Für viele ist es daher eine große Hilfe. Dies sind einige Beispiele für meine Kraftquellen. Welches sind deine?
Ulrike Hinrichs 2021

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